Die forensische Sprachverarbeitung

Kriminalistik

Volumn 57, Issue 11, 2003, Pages 676-684

  Künzel, Hermann J ^a  

^a PHILIPPS UNIVERSITY MARBURG   (Germany)

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EID: 0344119505     PISSN: 00234699     EISSN: None     Source Type: Journal    
DOI: None     Document Type: Review

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1. Heutzutage werden digitale Geräte immer beliebter, weil sie preisgünstig sind und keine magnetischen Tonträger mehr benötigen. Dabei entstehen folgende Probleme: Um die Herstellungskosten niedrig zu halten, wird die Abtastrate und damit der benötigte Speicherplatz extrem klein gehalten. Häufig ist dann der Frequenzgang sogar deutlich schlechter als der bereits auf 300 bis 3400 Hz reduzierte Bandpass einer (Festnetz-) Telefonverbindung. Ebenfalls aus Kostengründen werden keine Dauerspeicher benutzt, so dass beim Unterbrechen der Netzspannung die Aufzeichnung verloren geht. Solche Geräte dürfen also nie vom Netz getrennt werden, z. B. um sie einem Sachverständigen zur Auswertung zu schicken! Die Polizei umgeht dieses Problem normalerweise durch Anfertigen von Kopien vor Ort. Da aber die Geräte fast nie Ausgangsbuchsen enthalten, wird meist über den eingebauten schlechten Lautsprecher per Luftschall und Mikrofon auf einem anderen Gerät aufgezeichnet - meist ein einfacher Kassettenrekorder. Man kann sich leicht vorstellen, welche Menge additiver Störungen das Sprachsignal beeinträchtigen, bevor es dem Sachverständigen vorliegt.
2. Die moderne Form der Aufzeichnung geschieht digital, meist auf einem magneto-optischen Laufwerk (MOD). Dabei sollte aber keine Datenkompression zwecks Ersparnis von Speicherplatz vorgenommen werden. Die moderne Vermittlungstechnik erlaubt die Trennung von eingehendem und ausgehendem Signal. Hierdurch können für die Lokalisierung des Anrufers eventuell wichtige Hintergrundgeräusche eindeutig der Seite des A- oder B-Teilnehmers zugeordnet werden.
3. Diese Bezeichnung wurde 1987 eingeführt (H. J. Künzel, Sprecher-Erkennung. Grundzüge forensischer Sprachverarbeitung, Heidelberg, S. 77ff.); im englischsprachigen Bereich hat sich hierfür der Begriff speaker profiling durchgesetzt.
4. Ein Sprecher kann nicht selten auch durch den Stimmensachverständigen als Raucher erkannt werden, wenn nämlich während eines Telefongesprächs an der Zigarette gezogen wird. Dies ist z. B. häufig bei "entspannten" Dialogen der Fall, wie sie in TÜ anfallen.
5. A. Braun und A. C. A. Rietveld (1995): The effect of cigarette smoking on perceived age. In: Proceedings 13th Intern. Congress of Phonetic Sciences Stockholm, vol.2, S. 296.
6. S. die ausführliche Darstellung der Struktur, Möglichkeiten und Grenzen von DRUGS bei H. J. Künzel (2001): Eine Datenbank regionaler Umgangssprachen des Deutschen (DRUGS) für forensische Anwendungen. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik ZDL 2, 129-154.
7. In dem Beispiel des angeblichen Mafia-Sprechers würde sich die Situation folgendermaßen darstellen: Die meisten Sprecher mit Italienisch als Muttersprache haben enorme Schwierigkeiten, in Sprachen wie Deutsch, Englisch, oder Tschechisch vollkommen normale Kombinationen von zwei oder drei Konsonanten am Ende eines Wortes auszusprechen, weil diese eben im Italienischen nicht existieren, und fügen dann in der Regel einen Vokal ein, der dem unbetonten /e/ im Deutsehen (z. B. an Ende von "Sonne" entspricht. Ein deutsches Wort wie "erst" wird dann als "erste" ausgesprochen. Wird es dagegen korrekt ausgesprochen, sind Zweifel an der italienischen Muttersprache angebracht.
8. In der Literatur ist ein Mordfall beschrieben, in dem die auch spektralanalytisch nachweisbaren Schmatzlaute des Täters auf beide Ursachen zugleich zurückgeführt werden konnten (H. J. Künzel, 1987: Sprecher-Erkennung. Grundzüge forensischer Sprachverarbeitung, Heidelberg, S. 67).
9. Wenn z. B. in einem Fall von Erpressung z. N. der Deutschen Bahn der anonyme Anrufer einen so speziellen Ausdruck wie "Langsam-fahrstrecke" benutzt, liegt der Verdacht nahe, dass er selbst Eisenbahner ist. Dieser Fall ist tatsächlich vor Jahren in Süddeutschland aufgetreten.
10. H. J. Künzel (1987): Sprecher-Erkennung. Grundzüge forensischer Sprachverarbeitung, Heidelberg, S. 6f.
11. J. P. French (1990): Analytic procedures for the determination of disputed utterances. In: H. Kniffka (Hrsg.), Texte zur Theorie und Praxis der forensischer Linguistik. Tübingen, S. 201-213.
12. Dies ist z. B. häufig der Fall, wenn ein Sprecher undeutlich oder leise spricht, mehrere Personen zur gleichen Zeit sprechen, oder ein lautes Nebengeräusch auftritt. Diese Beeinträchtigungen können leider auch zusammen auftreten.
13. Hierzu ein Beispiel: In einem Fall des mehrfachen Mordes war auf einer verdeckt hergestellten Tonbandaufzeichnung von dem Hauptverdächtigen angeblich der Verbringungsort einer der Leichen genannt worden, wegen des Hintergrundgeräuschs (Aufnahmeort war eine Pizzeria) aber nicht verständlich. Der phonetische Sachverständige konnte mit Hilfe der o.g. modernen Editiertechniken zwar die Anzahl der Silben ermitteln, das fragliche Wort selbst aber auch nicht verstehen. Daraufhin wurde die einsendende Dienststelle in Bayern um Entsendung eines aus der betr. ländlichen Gegend stammenden Beamten gebeten. Zunächst war auch das gemeinsame Abhören der Endlosschleife im Labor vergeblich. Dabei verfestigte sich der Höreindruck der fraglichen Stelle im Kopf des Beamten jedoch derart, dass ihm während der Rückfahrt nach Bayern spontan der Ortsname einfiel. Die Leiche wurde dort unter einem frischen Betonfundament entdeckt.
14. Mit den in den letzten Jahren aufgekommenen, im Auftrag von Nachrichtendiensten entwickelten und nicht frei erhältlichen Geräten auf der Basis von so genannten Mikrofon-Arrays (Anordnung vieler Mikrofone in exakt definierten Abständen auf einem Geräteträ ger) und einer komplexen Auswertesoftware können auch unter den genannten ungünstigen forensischen Bedingungen teilweise perfekte Ergebnisse erzielt werden. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um eine Sprachverbesserung im klassischen Sinne, sondern um die Vermeidung von Störungen bereits während der Aufzeichnung. So können u. a. analog zum optischen Zoom einer Kamera akustische Ziele exakt angepeilt, akustisch "vergrößert" und dadurch gleichzeitig in der Nähe des Ziels vorhandene Störquellen wirksam ausgeblendet werden. Auf eine weitergehende Darstellung wird hier verzichtet. Interessierte mögen sich an den Verfasser wenden.
15. 3(1999): Die Gegenüberstellung im Strafverfahren, Stuttgart, S. 71 ff.).
16. Eine seltene Ausnahme bildet das "Ausleihen" einer fremden Stimme exakt zu dem Zweck, diese Tat-Täter-Verbindung zu vermeiden. Ein Beispiel bietet der Fall der Entführung und Ermordung z. N. Fiszman (Frank-furt), in dem der Haupttäter mit Hilfe seines Computers eine Stimme aus einem Sprachlernprogramm benutzte, um den aus mehreren Fragmenten zusammengefügten Text einer später am Telefon als "Konserve" abgespielten Botschaft zusammenzustellen. Dieses Verfahren hat für den Anwender ähnliche Vorund Nachteile wie das beliebte Zusammenstellen einer schriftlichen Nachricht mittels ausgeschnittener Wörter aus einer Zeitung einschließlich der Gefahr, genau daran entlarvt zu werden ! Im Fall Fiszman wurden nämlich auf dem beschlagnahmten Computer des Haupttäters einschlägige Sound-Dateien gefunden. Wie sich später herausstellte, hatte das Stimmengutachten im Übrigen die geliehene Stimme zutreffend charakterisiert, einschließlich der Bestimmung der regionalen Herkunft. Genau dieser Umstand hatte ironischerweise die Ermittlungen zeitweise in eine falsche Richtung geführt, als intensiv aber vergeblich nach einem "im nördlichen Bereich des westfälischen Teils von NRW aufgewachsenen" Bekannten oder Komplizen des bereits frühzeitig in Verdacht geratenen, aus Wiesbaden stammenden und bis dato nur im RheinMain-Gebiet aktiven Haupttäters gesucht wurde.
17. Eine ausführliche Darstellung derselben findet sich z.B. bei H. J. Kanzel (1998): Zur Entwicklung der forensischen Sprecher-Erkennung in Deutschland. In: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Festschrift für Horst Herold zum 75. Geburtstag, Wiesbaden, S. 369 - 395.
18. H. Bolt et al. (1979): On the theory and practice of voice identification. Washington DC.
19. H. J. Künzel (1987): Sprecher-Erkennung. Grundzüge forensischer Sprachverarbeitung, Heidelberg.
20. Entnommen aus Künzel (1998), Zur Entwick-lung der forensischen Sprecher-Erkennung in Deutschland. In: Bundeskriminalamt (Hrsg.), Festschrift für Horst Herold zum 75. Geburtstag, Wiesbaden, S. 385.
21. S. dazu M. Hecker (1993): Forensische Handschriftenuntersuchung . Heidelberg.
22. J. Gonzalez-Rodriguez, J. Ortega-Garcia and J. L. Sanchez-Bote (2002): Forensic identification reporting using automatic biometric systems. In: Zhang (ed.), Biometrics Solutions for Authentication in an E-World, Kluiver.
23. Ein erster Bericht ist kürzlich vorgelegt worden: H. J. Künzel and J. Gonzalez-Rodriguez (2003): Combining automatic and phoneticacoustic speaker recognition techniques for forensic applications. In: Proceedings 15th Intern. Congress of Phonetic Sciences, Barcelona, Spain.
24. H. Hollien et al. (1995): Criteria for earwitness lineups. In: Journal of Forensic Linguistics 2, 143 - 153. S. auch G. L. Wells et al. (1998): Eyewitness identification procedures: recommendations for line-ups and photospreads. In: Law & Human Behavior 22, S. 603-647.
25. H. Hollien et al. (1995): Criteria for earwitness lineups. In: Journal of Forensic Linguistics 2, 143 - 153. S. auch G. L. Wells et al. (1998): Eyewitness identification procedures: recommendations for line-ups and photospreads. In: Law & Human Behavior 22, S. 603-647.
26. S. die Diskussion bei A. P. A. Breeders (2001): Forensic speech and audio analysis/forensic linguistics. 13th Interpol Forensic Science Symposium, Lyon, France.